Manche Autoren fragen sich, worüber sie schreiben sollen. Es will ihnen einfach nichts Spektakuläres einfallen. Dabei muss man nur aufmerksam durch die Welt gehen. Die besten Geschichten kann man sich nicht ausdenken, die schreibt das Leben. Wer hätte gedacht, dass es Jemanden gibt, der alle drei schweren Attentate (Boston, Paris, Brüssel) überlebt hat, obwohl er am Tatort war? Hätte ein Autor sich das ausgedacht, die Kritiker würden ihn zerreißen.
Ein Ereignis aus meinem eigenen Leben, die bevorstehende Operation am "Grauen Star", hat mich zur folgenden Geschichte inspiriert.
Der kleinste Vogel der Welt
Eine sensationelle Entdeckung! Deutsche Forscher haben den vermutlich kleinsten Singvogel der Welt entdeckt. Er misst nur ein bis zwei Millimeter und hat im Laufe der Evolution seine Flügel und Beine verloren. Beides benötigt er auch nicht mehr, da er ortsfest ist. Ungläubiges Staunen in der Wissenschaft. Wie konnte dieser Vogel so lange unentdeckt bleiben, wo er doch, wie man jetzt weiß, so zahlreich auftritt? Rätselraten auch darüber, wie er sich fortpflanzt. Da er seine Behausung nicht verlässt und auch keine Artgenossen ihn erreichen können, steht man nahezu vor einem Wunder. Die erste Vermutung, es könnte sich um Autogamie (Selbstbefruchtung) handeln, wurde als wenig wahrscheinlich bewertet. Denn es bleibt die Frage, wie verlassen die Nachkommen das Nest und wozu werden sie gebraucht, wenn sie doch keine Geschlechtspartner aufsuchen können. Da bisher auch in allen Nestern nur Einzelexemplare gefunden wurden, wird von einigen Biologen die gewagte Ansicht vertreten, er pflanze sich gar nicht fort. Vermutet wird eher eine durch Viren hervorgerufene Genmutation in einer lebenden Zelle, die bei Befall des Wirts eine völlig neue Lebensform entstehen lässt. Einige reden schon von einer neuen Erklärung der Schöpfungsgeschichte und stellen die Evolutionstheorie von Charles Darwin in Frage.
Doch wie konnte sich dieses zwar kleine, aber prachtvolle Vögelchen so lange vor den Blicken der Forscher verbergen? Es trägt ein in allen Spektralfarben leuchtendes Federkleid mit metallischer Ausprägung. Bisher wurde allerdings noch kein Foto dieser Spezies veröffentlicht. Das Zwergvögelchen mit der Bezeichnung Sturnus cataractus hat sich extrem gut getarnt. Da es sich nicht bewegt und keine Organe besitzt, benötigt es so gut wie keine Nahrung. So fällt es beispielsweise nicht durch Stoffwechselprodukte auf. Schon sein Lebensraum verlangt Beachtung. Es hat es sich im menschlichen Auge zwischen Iris und Netzhaut in der Linse bequem gemacht. Angreifer hat es zwar nicht zu befürchten, es möchte aber dennoch unentdeckt bleiben und das gelingt ihm ausgezeichnet. Es sondert ein spezielles Sekret ab, welches die Augenlinse eintrübt. Die ursprünglich brilliante Färbung verliert sich nach einiger Zeit in einem bedeutungslosen Grau. Das Vögelchen wird sozusagen unsichtbar. Um es zu entdecken, muss man die Linse zerstören. Das bedeutet leider auch für das Vögelchen das Aus. Diese besondere Eigenart hat ihm die Trivial-Bezeichnung „Grauer Star“ eingebracht. Viele Menschen werden sich gefragt haben, warum sie von der Linsentrübung heimgesucht wurden und einen großen Teil ihrer Sehfähigkeit eingebüßt haben. Jetzt fanden die Biologen die Antwort darauf. Der kleinste Vogel der Welt will sich vor neugierigen Blicken verstecken. Schade, wo er doch so hübsch ist.
Rolf Freiberger, März 2016
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